Analoges oder digitales Coaching?
"Wie nutzt Du eigentlich in der Beratung digitale Medien? Hast du auch schon einmal über Skype ein Video-Coaching durchgeführt? Ja, habe ich. Mit einer Klientin, die einen beruflichen und privaten Neustart im Ausland realisiert hat."
Das war der Einstieg eines Gespräches mit einem Kollegen vor einiger Zeit zu den Chancen und Grenzen digitaler Medien im Coaching. Die Frage hat eine große Aktualität, steht sie doch stellvertretend für den digitalen Wandel in der Gesellschaft und die Unsicherheit im Umgang mit den technischen Anwendungsmöglichkeiten in einzelnen Beratungsformaten.
Funktionales versus persönliches Lernen
Blickt man auf die Entwicklungen in der Weiterbildungs- und Beratungslandschaft, dann haben sich besonders im Trainings- und Seminarbereich neben E-Learning und Blended-Learning Formaten spezielle Microtrainings etabliert. Ein Markt der wächst. Die Trainingsinhalte werden in kurzen Präsenzphasen vermittelt und über Mobile-Apps als Vertiefung und Wiederholung, z.T. individualisiert, zur Verfügung gestellt. Ein effizientes Vorgehen für Gruppentrainings, in denen der funktionale Wissenserwerb im Vordergrund steht.
Wie verhält es sich jedoch bei personalen Hilfestellungen im Coaching, in denen Kompetenzen wie Kooperation, Dialogfähigkeit, Analysefähigkeit oder Selbstführung thematisiert werden?
Vertrauen und Resonanzerleben
Für die meisten Coaches ist das klassische Beratungssetting im Face to Face Kontakt immer noch die erste Wahl. Eine Begründung: Die ausschließlich mediale Kommunikation erschwert die Entwicklung einer guten Beziehungsqualität (vgl. Coaching Magazin 03/2017, E-Coaching). Hier kommen wir an einen entscheidenden Punkt. Die beruflichen und zunehmend auch privaten Anlässe und Themen, mit denen Menschen ein Coaching in Anspruch nehmen, sind sehr persönlich und betreffen häufig herausfordernde, konfliktreiche oder als krisenhaft empfundene Problemlagen.
Vertrauen ist das Stichwort und die Basis einer tragfähigen Arbeitsbeziehung, in der eine zugewandte und mit allen Sinnen spürbare Interaktion die Beziehungsqualität trägt. Diese zwischenmenschliche Resonanz entsteht durch die körperliche und räumliche Begegnung. Sie ist das Fundament aller Interventionen, zur Aktivierung persönlicher Ressourcen. Elektronische Medien können dies nur zum Teil transportieren.
Digitale Medien im Klientenkontakt
Es ist nur verständlich, dass bei der Erstkontaktaufnahme zu einem Coach oder Berater die E-Mail häufig das Mittel der Wahl ist. Ein Telefonat erfordert für die Klienten bisweilen einigen Mut und ist nach meiner Erfahrung eher der zweite Schritt.
Ähnlich verhält es sich mit der Kontaktaufnahme von Personalverantwortlichen in der Organisationsentwicklung und HR, sofern man sich nicht persönlich auf einer öffentlichen Veranstaltung begegnet ist. Die fast schon klassische Kommunikationsform einer E-Mail ermöglicht ein unverbindliches, erstes Vorfühlen. Die Ansprache und Wortwahl kann gut vorbereitet und das Anliegen klar umrissen und begrenzt werden.
Hat sich im Coaching-Prozess eine tragfähige Arbeitsbeziehung etabliert, kann situativ und anlassbezogen die Telefonberatung, der Messengerdienst oder das Video-Coaching eine Alternative und Ergänzung sein. Ein reines Online-Coaching über Video-Chat ist verlockend, vielleicht auch eine gute Marktstrategie und sicher in manchen Situationen hilfreich. Es ersetzt jedoch nicht die zwischenmenschliche Resonanz, die in der körperlichen Präsenz einer analogen Beratungssituation entsteht.
Die digitale Beratungslandschaft wächst und es wird sich zeigen, welche Beratungsformate und technischen Lösungen sich durchsetzen werden. Aus reinen Kostengründen oder vermeintlicher Zeiteffizienz, darf und sollte die Beratungsqualität eines analogen Settings nicht aufgegeben werden.
Meine Klientin, die Ihren persönlichen Neustart im Ausland gewagt hat, habe ich via Skype durch die ersten kleinen Täler begleitet und mit Ihr den Prozess auch über das Medium abgeschlossen.